100 Jahre Frauenwahlrecht – (nur) eine Etappe auf dem Weg zur Gleichheit
Mit dem knappen Satz „Ich erteile das Wort der Abgeordneten Juchacz“ wurde 1919 die erste Rede einer Frau in der Weimarer Nationalversammlung angekündigt. Das Protokoll vermerkte als Randnotiz: „Heiterkeit“. Dorothee Schaper und Almuth Voss gaben am vergangenen Samstag in der Trinitatiskirche im Rahmen einer Lesung zum historischen Tag des 100-jährigen Jubiläums des Frauenwahlrechts Einblicke in die Leben damaliger Kämpferinnen für mehr Gleichheit und Sozialreformen.
Die Veranstaltung war gleichzeitig Auftakt der Reihe „Offene Gesellschaft“ der Melanchthon Akademie. Der Weg bis zur gesetzlich legitimierten Teilnahme von Frauen an politischen Wahlen in Deutschland war lang. Von der ersten laut gewordenen Forderung nach aktivem Mitwirken bis zum Inkrafttreten des entsprechenden Artikels in der Weimarer Verfassung und anschließend der Wahl von 37 Frauen in die Versammlung vergingen fast 80 Jahre. Einigen der Mitstreiterinnen, Genossinnen, Freundinnen und manchmal Partnerinnen gaben Dorothee Schaper und Almuth Voss ihre Stimmen. Als Ich-Erzählerinnen schilderten sie die privaten und politischen Kämpfe von vier Frauenpaaren wie unter anderem Clara Zetkin und Rosa Luxemburg oder Marie Juchacz und Elisabeth Kirschmann-Röhl.
Mit großem Respekt vor den häufig angefeindeten, „auffälligen“ Frauen und Verständnis für die damaligen gesellschaftlichen Gegebenheiten brachten die beiden Vortragenden ihre Zuhörer dazu, wechselnde Perspektiven einzunehmen und immer wieder aus ihrer bequemen Haltung zu kommen. Nach jedem Vortragsblock positionierten sie sich an einem neuen Punkt der Trinitatiskirche. „Der Effekt war auch für uns spannend“, erzählte Dorothee Schaper, „weil wir mit jedem Wechsel eine andere erste Reihe vor uns hatten. Tatsächlich formiert sich auch so eine offene Gesellschaft mit jedem Stühlerücken neu. Und besonders schön: Das Interesse war so groß, dass wir gar nicht genügend Stühle eingeplant hatten und neue Plätze schaffen mussten.“ Die musikalische Gestaltung der Lesungspausen übernahm Jazzflötistin Nadja Schubert. Das Konzept des Jubiläumsevents entstand in Zusammenarbeit der beiden Pfarrerinnen, das Textbuch stammt maßgeblich von Almuth Voss. Über die positiven Rückmeldungen aus dem Auditorium freuen sie sich sehr. Vor allem die jüngeren Gäste erklärten spontan, dass die erstrittene Demokratie sehr sorgfältig geschützt werden müsse, gerade weil sie noch so jung sei. „Diese Rechte fallen nicht vom Himmel“, betonte Dorothee Schaper. „Durch solche Veranstaltungen Verständnis dafür zu wecken, wie erkämpfens- und erhaltenswert sie sind, das ist mein Motor. Darum mache ich das.“
Zu Ende erzählt ist die Geschichte der gesellschaftlichen und politischen Ungerechtigkeit damit noch nicht. Die Sozialdemokratin Marie Juchacz bedankte sich damals nicht bei der Weimarer Nationalversammlung dafür, reden zu dürfen – es war schließlich eine Selbstverständlichkeit. Und auch 100 Jahre später monieren Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesjustizministerin Katharina Barley jedoch immer noch zu Recht, dass Frauen in vielen Bereichen unterrepräsentiert sind. Über welche weiteren Etappen der Weg zur Gleichberechtigung aller führen muss, formulierten Dorothee Schaper und Almuth Voss abschließend mit Zitaten von Mely Kiyak: „Rund 8 Millionen Menschen leben derzeit in Deutschland, die aufgrund ihrer Nationalität kein Wahlrecht haben. Gleichheit zwischen allen Bevölkerungsgruppen muss aber das oberste Ziel sein. Damit wir nicht nur geographisch, sondern auch politisch am gleichen Ort leben. Wo es kein Wahlrecht für alle gibt, gibt es keine Freiheit.“